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Crossroads oder eine andere Geschichte

  • jeannettedrygalla
  • 18. Mai
  • 6 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 20. Mai

Es ist ein schweres Starten. Erst will der Tag an sich überhaupt nicht ins Rollen kommen. Ein heißer Tag im August. Einer zum Schwitzen. Und zum Abtauchen in kühles Nass. Doch diese Möglichkeit hat sie verbummelt. Wirklich verbummelt. Mit hin und her Träumen, ein bisschen Lesen, lange Frühstücken, Hängematteliegen. Auf eine schöne Weise verbummelt, die aber immer die Möglichkeit der klebrigen Schwere in sich trägt. Das Meer ist zwar nicht wirklich weit weg, hier auf der Insel, aber ein Aufrappeln braucht es schon. Einen Entschluss. Wenn der nach spätem Starten lange auf sich warten lässt, bräuchte es ein Auto, um noch ans Meer zu kommen. Ein Auto jetzt über die Insel zu bewegen, scheint ihr ein völlig unmögliches Ansinnen.

 

Am Nachmittag gibt es dieses Konzert. Und damit die Möglichkeit, sich doch noch aus der Bummelei herauszuziehen. Am Schopf heraus aus der trägen Schwere. Doch dann streikt das Fahrrad. Ein pinkes Klappfahrrad, DDR-Produkt. So eins der eigentlich unkaputtbaren Art. So eins, das älter ist als das furchtbare Wort „unkaputtbar“. Sie hat es im letzten Sommer über Kleinanzeigen erwerben können. Die Farbe schien ihr zu dem Zeitpunkt das Haar in der Suppe. Aber, und das gab den Ausschlag, das Fahrrad hat einen zusätzlichen Gepäckträger vorn. Irgendwie sind es bei Entscheidungen doch oft die kleinen Details, die Bilder im Kopf entstehen lassen und dann dem Bauch den richtigen Stups geben. Als sie ihr letztes Auto kaufte, musste es unbedingt eine Sitzheizung haben. Wichtigstes Kriterium. Aber das ist eine andere Geschichte.

 

Zurück zum pinken Fahrrad: Eine „Jugendsünde, die Farbe“, hat ihr der Verkäufer erzählt. Und, dass er damit seine Freundin beeindrucken wollte. Deshalb für sie das Fahrrad umgespritzt hat. Lange sei das her. „Das Pinke am Klapprad, das Haar in der Suppe, ein Minnesong also“, hatte sie gedacht. Sie hatte schon die Hand am Lenker, die Probefahrt hinter sich, sie hatte die 50 € bezahlt und wollte gerade zum Abschied kommen, da hat sie vorsichtshalber noch einmal gefragt: „Und? Was ist aus der Freundin geworden?“ Der Verkäufer lachte: „Sie ist meine Frau.“ Ein Fahrrad mit gutem Karma also, nur eben in pink. Ein Pink, das manchmal fast rot wirkt. Etwas kreischend. Keine schöne Farbe. Aber gutes Karma. Doch jetzt hat es einen Platten. Erstmal kein größeres Problem. Auch wenn das Schwere des Sommertages nicht gerade dazu einlädt Probleme zu lösen. Hilfesuchend schaut sie zum Haus gegenüber. Aber da ist niemand. Beim Aufpumpen stellt sich heraus, dass die Luft nicht drin bleibt. Noch einmal schaut sie zum Haus gegenüber. Ein Fenster öffnet sich. Kurz hält sie inne, überlegt. Hilfeholen ist nicht gerade ihre starke Seite. Ist zuweilen genauso schwer bis unmöglich, wie alles zu erzählen. Oder aus der klebrigen Schwere heraus eine Bewegung zu machen. Kurz nur hält sie inne, dann kehrt ihr Blick zum Fahrrad zurück. Sie prüft mit Spucke das Ventil. Über sich selbst lächelnd. Kompetenz aus der Erinnerung geschöpft. Eine Art Lackmustest für Fahrradreifen. Das hatte sie mal ihren Vater machen sehen. Schön war das. Selten war er da. Viel zu selten. Selten war überhaupt jemand da. Aber das ist eine andere Geschichte.

 

Ergebnis jetzt: Undichtes Ventil. Der Blick in die Satteltasche bringt einiges an Werkzeug zu Tage. Ordentlich eingewickelt in ein geblümtes Tuch, das nach gleichem Geburtsjahr wie das Klapprad aussieht. Farblich originalbelassen. Ein schönes Stillleben. Nur ohne Ventil. Achselzuckend hockt sie davor. Dann stellt sie sich selbst – plus dem Fahrrad – ein Ultimatum: Noch ein einziges Mal probieren, dann aufgeben. Die Hängematte ist keine schlechte Alternative. Zurück am Fahrrad zieht sie mit einem Ruck das Ventil komplett aus dem Reifen. Sie kneift ein Auge zu, schaut durch das andere das Ventil scharf an, pustet kurz darauf, um es dann erneut in den Reifen zu setzen. Dann wieder aufpumpen, schwitzen, atmen. Es klappt, die Luft hält. Warum auch immer. Vorsichtig schraubt sie die Plastikkappe auf. Schnell das Körbchen auf den vorderen Gepäckträger, ein Buch hinein, das braucht es immer. Dazu das Drehzeug. Und einen warmen Pullover für später.

 

Jetzt los. Bereits nach der ersten Ecke, als der Asphaltweg in einen Plattenweg übergeht, zeigt sich das nächste Problem: Mit jeder Unebenheit auf dem Weg bewegt sich die Spitze des Fahrradsitzes ein Stückchen nach oben. Und Plattenwege haben viele Unebenheiten. Stück für Stück ruckelt sich der Sitz zurecht, die Spitze immer ein bisschen mehr nach oben. Irgendwann so, dass sie nicht mehr sitzen kann. Sie fährt in den Pedalen stehend weiter, bis auch das nicht mehr möglich ist. Wie eine Erektion ragt die Sitzspitze nach oben. „BeateUhsePosition“, kommt ihr grinsend in den Sinn. Nie konnte sie verstehen, dass Fahrradfahren als Ersatz für Sex gelten soll. Fahrradfahren ist wunderbar. Das unbedingt. Aber ein Ersatz für dieses andere Wunderbar? Niemals! Aber auch das ist eine andere Geschichte.

 

Sie erinnert sich genau, dass beim Werkzeug ein Knochen ist. Vor ihrem inneren Auge erscheint das geblümte Tuch aus den 70ern mit dem Stillleben aus Schraubenzieher, Inbusschlüssel. Und einem Knochen. Also hält sie an, packt erneut alles aus, schraubt locker, richtet, schraubt fest, packt ein, strafft Schultern. Weiter gehts. Über den Plattenweg, an den Silos vorbei, am Gutshaus links abbiegen. Das Feld noch nicht geerntet, ein heißer Sommertag, die vollen Ähren wehen im Wind. Dennoch, die Stoppeln ahnt oder sieht sie schon vor ihrem inneren Auge.

Ein Bild, das markiert, dass der Sommer sich zu Ende neigt. Vielleicht, denkt sie, wird sie sich später an ein Stoppelfeld erinnern. Van Goghs Bild vom Säenden kommt ihr in den Sinn. Ein säender Mann vor untergehender Sonne. Ein Bild der Wiederkehr und des Neubeginns. In der Geste des Säens ist das Ernten schon zu sehen. Aber es sind auch die Farben des Ackers. Es wirkt fast so, als würde er in einen Acker sähen, der kurz vor der Ernte steht. Als würde sein jetziges Tun schon das zukünftige Ergebnis vorwegnehmen.

 

Im Dorf wird aus dem Platten- ein Asphaltweg und als die Häuser sich wieder lichten, geht es bergab. Sie freut sich: Ganz allgemein und einfach so. An den Feldern, über ihren fliegenden Rock. Und darüber, dass sie sich doch auf den Weg gemacht hat. Gleich wird sie abbiegen. Auf den Feldweg und direkt zum verwunschenen Stückchen Miteinander. Ein in die Realität gehobener Traum mitten auf Rügen. Ein märchenhaftes Stückchen Insel auf der Insel. Auf der linken Seite biegt der Feldweg ab und führt direkt zum Konzertort. Eine Bank markiert diesen Weg.

 

Der Feldweg, der dann folgt, ist noch unebener als der Plattenweg. Am Sonntag zuvor war sie ihn mit Peter, Mille und Matti in drei Autos nach einem Konzert und durch die Dunkelheit gefahren. Herrliches, unbändiges, unvernünftiges gemeinsames Erleben. Mit fliegenden Rasenfetzen und wirbelndem Staub. Aber auch das ist eine andere Geschichte. Sie weiß dadurch, dass es ein holpriger Weg ist. Staubtrocken in diesen warmen Tagen. Und eine schöne Strecke durch die Felder. Schon auf den ersten Metern merkt sie, dass der Fahrradsitz für diese gesteigerte Holprigkeit doch nicht fest genug ist. Wieder bewegt sich die Spitze in Richtung Senkrechte. Wieder geht sie in die stehende Fahrhaltung und wieder versucht sie den Unebenheiten auszuweichen. Hofft darauf, es so bis zum Konzertort zu schaffen. Aber als sie ungefähr auf einem Drittel der Strecke ist, gibt sie auf. Erneut packt sie das Werkzeug aus. Seufzend.

 

Als sie gerade ansetzen will, kommt wie aus dem Nichts ein Radfahrer und mit ihm eine Stimme: „Brauchst du Hilfe?“ Und schneller als sie nachdenken kann kommt von ihr ein kurzes und präzises „Ja!“ Sie wundert sich über sich selbst. Hilfe anzunehmen ist nicht gerade ihre starke Seite. Fast genau so wenig ausgeprägt wie das Vertrauen, alles erzählen zu können. Alles erzählen können, das ist eine Sehnsucht, eine Frage, die alle Begegnungen durchzieht. Auch eine Art Lackmustest. Immer negativ. Lange schon. Alles erzählen können. Was für eine schöne Vision. Jetzt sind es die Geschichten, die immerzu in ihrem Kopf kreiseln. Das Schreiben ist zu einem Ventil geworden. Einem Ventil, das durchlässt, bevor der Reifen platzt. Eine komische Metapher, die mit dem Ventil. Aber auch das ist eine andere Geschichte.

 

Vorsichtig schiebt sie hinterher: „Der Sattel hat sich gelöst!“ Dann muss sie plötzlich lachen. Lachend zeigt sie, noch mit dem Knochen in der Hand, auf den senkrecht nach oben gerichteten Sattel und fragt, es sprudelt aus ihr heraus: „Wer will das das denn so?“ Als sie ihn ansieht lächelt er. Erst zögerlich, vorsichtig, fast schüchtern. Dann ganz offen. Es ist ein Lächeln, das in den Augen anfängt. Während sie ihn anschaut fragt sie sich. Fragt es in ihr: „Ist das jemand, dem ich alles erzählen kann? Oder schreiben?“ Und irgendwoher reagiert ihr Lackmustest. Eine kleine Veränderung in der Farbe nur. Aber eine Möglichkeit. Wie das Stoppelfeld auf ihrer inneren Netzhaut, obwohl das Feld noch nicht geerntet ist. Und die Weizenfelder in sattem Gelb zur Abendsonne leuchten.

(2022)


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Jeannette Drygalla | Fahrradfahrer*innen auf Rügen | Pfeifenreiniger, Holzperlen, Clay, Fell, Acrylfarbe  und Fingerfahrräder | 2024
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