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BEGEGNUNG (von Ulle Sende)

  • jeannettedrygalla
  • 18. Mai
  • 4 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 25. Mai



Ulle Sende | Rügenbank | 2022 | Digitalfotografie
Ulle Sende | Rügenbank | 2022 | Digitalfotografie

Ein perfekt weiß-blau flimmernder Augusttag. Er fährt auf der schmalen Straße am Ufer entlang. Links liegen satte erntereife Weizenfelder im Sommerglast. Feldblumen am Wegrand. Und rechts ist das Wasser. Sein Wasser. Der Sund. Das Wasser seiner Kindheit. Er war zurückgekehrt. Nach all den Jahren. Eigentlich sieht heute alles aus wie im Paradies oder im Märchen.
 Nur eine Regentrude fehlt. Er versucht sich zu erinnern an die Geschichte. Das Lieblingsbuch des Vaters, ein Geschenk zum Geburtstag. Oft hatte er es gelesen als kleiner Junge. Und in den trockenen Sommern jetzt kehrt eine blasse, aber eindringliche Erinnerung daran zurück. An das rettende Nass der Regentruden.


Die drei Gestalten schräg über sich bemerkt er nicht. Sie sind nicht sichtbar im rationalen Teil des Tages. Drei bärtige Typen inmitten des großen Weiß-Blau. Zu einem Konzert will er. Ein Jazzkonzert mitten auf der Insel. Selten hier, so etwas. Den Ort, an dem es erklingen wird, hat er erst vor kurzem kennengelernt und sich sofort in ihn verliebt. In die kleine Bühne, gezimmert aus Brettern und Kanthölzern, über die hinweg Blicke in die Weite der Insel fliegen können. In die Menschen dort, Musiker, das Publikum. Und in die vielen, deren Tun all dies über Jahre hinweg auf die Beine gestellt hat. Es gibt sie also: Nischen, in denen man sich selbst wiederfinden kann, wenn man sein Gleichgewicht verloren hat. Nicht immer findet er eine, wenn er sie braucht.


Vor einem großen Hügel macht er Pause. Trinkt etwas und denkt nach über den Weizen und die Schönheit der Ähren. Erstmal rüber über den Berg und erst danach die Pause einzulegen wäre vielleicht besser gewesen, denkt er. Eigentlich hatte er es ja viel eiliger gehabt. Aber jetzt trödelt er trotzdem weiter. Irgendetwas hält ihn hier fest und macht ihn träge. Er schiebt es auf die Nachmittagshitze. Legt sich hin und schaut hoch in den blauen Himmel mit den paar weißen Wolken.
 Macht ein paar Fotos. Die drei schräg über ihm bemerkt er dabei wieder nicht.


Dann aber wird er doch unruhig, steigt wieder aufs Rad und will nun endlich den Hügel hinter sich bringen. Oben angekommen (jetzt ein bisschen verschwitzt und außer Atem) hat er einen noch weiteren Blick. Die Gegend ringsum scheint menschenleer zu sein. Fahrzeugleer. Lärmlos. Still. Kaum Wind. Ein junger Sonntagnachmittag eben, ein Inselsonntag im Hochsommer. In der Ferne taucht nun ein roter Punkt auf und kommt langsam näher. Seine Augen sind nicht gut. Waren sie noch nie. Er ist mehr Ohrenmensch. Aber wenn das mal keine Frau in Rot ist, malt er sich aus und fährt etwas schneller. Ein rotes Kleid in der Ferne dieser weizen-goldenen Einsamkeit. Wie spannend. Ob sie sich gleich treffen werden? Da vorn an der Kreuzung vielleicht?


Dort aber biegt sie ab.
 Gut, denkt er, ich muss ja auch da lang. Ist doch genau meine Richtung. Wahrscheinlich will auch sie zum Konzert. Es sieht ganz danach aus. Ich werde sie wohl überholen. Plötzlich aber stoppt sie kurz vor ihm beginnt an ihrem Sattel zu hantieren und an ihrem kleinen roten Klapp-Rad. Es ist schon älter. Noch von MIFA. Noch von damals. Er ist immer schon ein meist schüchterner Mensch gewesen und kann über das Wie-Spreche-Ich-Jemanden-An so lange nachdenken, bis alles vorbei ist. Diesmal aber ist es ganz einfach:

"Brauchst du Hilfe?"

"Ja."

Denn der Sattel hat sich gelöst und seine Spitze ragt nun senkrecht in den Himmel. Sie spricht nicht wie eine Einheimische. Sie hat diese Art zu reden und zu sein, die sofort irgendwie vertraut wirkt und alles ganz unkompliziert macht. Während sie Wohin und Woher erzählt, dreht er die Schraube des Sattels immer fester, ohne darüber nachzudenken.

„Übertreib es besser nicht…“

Sie lächelt. Er ist überrascht. Von der Situation. Und von sich selbst. Wo sind seine drei Begleiter geblieben? Zurückhaltung, Schüchternheit und Fluchtreflex? Ein bisschen verwirrt ist er auch. Spürt darin Freude. Ein KÖNNTE. Ein VIELLEICHT. Und auch sie will zum Konzert. Beide fahren dann nebeneinander auf dem Feldweg weiter. Er links, sie rechts und jeder in seiner Spur. Der Weg hat tiefe Furchen. Worte fliegen hin und her. Und später eine ganze Weile später und nach einer kleinen, vermeintlich belanglosen Bemerkung über den Text, den er irgendwann mal schreiben will, ruft sie:„WAS, DU SCHREIBST AUCH??“


Die drei auf ihrer weißen Wolke hängen gelangweilt um den Tisch herum. Der Bärtige grinst und fragt den Dicken, ob noch Bier da wäre. Und ob er sich nicht lieber eins aufmachen wolle als da unten schon wieder Schicksal zu spielen.

„Alter, du gehst viel zu weit über deine Kompetenzen hinaus.“

„Was für Kompetenzen denn? Ich mach, was ich will. Es ist langweilig und ihr habt keine Lust auf Skat und auch auf sonst nix. Es ist zum Kotzen manchmal mit euch. Und eurem ewigen Schachgespiele. Ich will auch mal was spielen! Wozu bin ich hier, wenn ich nicht ein bisschen Spaß haben darf?“

Der Dritte, ein altpunkig wirkender Dünner in zerlöcherten Jeans und Sandalen, ist jetzt fertig mit dem Drehen eines kolossalen Joints und mischt sich ein:

„Ich kenne deine Spielchen, Digga. Heute fängste irgendwas an und morgen isses schon wieder Schnee von gestern. Wäre doch richtig gut, wenn du mal an was dran bleiben würdest. Wenn du einfach mal GENAU HIER dran bleiben würdest. Also an den beiden da, die du vorhin so raffiniert verbandelt hast. Und das auch noch aus purer Langeweile. Ich muss zugeben, du machst so was sehr geschickt. Aber morgen schon biste wieder ganz woanders in deiner Birne oder besoffen oder am Zocken. Mit dem Kopp in den Wolken und dem Arsch im Wasser.“

„Dann spielt doch endlich mal wieder Skat mit mir und nicht nur immer euer blödes Schach!“

„Pass auf jetzt – VERSPROCHEN. Ich werde mein Wort halten. - Wenn du das hier ausnahmsweise mal zu einem Ergebnis bringst oder wenigstens eine erzählenswerte Geschichte draus machst, dann organisier ich dir ein ganzes Turnier. Extra für dich. Vielleicht in Abschnitt 277 und mit GUTEM Bier und nicht solcher Plürre wie dieser hier.“

Mit angeekelter Miene öffnet er eine neue Flasche und zündet sich seinen Joint an. Dabei schaut er nachdenklich auf die beiden da unten auf ihrem Feldweg mit den zwei tiefen Spuren. Und bläst den weißen Rauch in den blauen Himmel.


Ulle Sende (2022)


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